Die Deckers Reform

1. November 2014

Der DAV, ein deutscher Anwaltverein, hat in seiner Mitgliedszeitschrift im November 2014 sechs Beiträge veröffentlicht, die eine Änderung (Reform) des § 211 StGB befürworten. An erster Stelle steht ein Artikel von Herrn Rechtsanwalt Dr. h. c. Rüdiger Deckers unter dem Titel „Die Reform der Tötungsdelikte als historischer Auftrag„.

Die gewünschte Änderung wäre demnach nicht sachlich, sondern moralisch begründet. Allerdings erscheint es sinnlos, den Tatbestand einer Norm moralisch zu beurteilen. Man kann Menschen moralisch beurteilen, die sich dem Zeitgeist andienen, und man kann diesen Zeitgeist moralisch beurteilen.

Unter dem Zwischentitel „Ein Produkt des Nazi-Staats“ wiederholt Herr Dr. Deckers gleichwohl sein Argument, die gegenwärtige Fassung des § 211 StGB sei 1941 geschaffen worden.

Unmittelbar anschließend schreibt er weiter:  „Sozialpsychologisch betrachtet vermittelt der im Gesetz normierte Tätertyp ein Feindbild, die individualbezogene Betrachtung zeichnet ein Bild von einem Menschen, der außerhalb der Gemeinschaft steht und als Feind bekämpft werden muss„.

Unmittelbar daran anschließend zitiert Herr Dr. Deckers Statssekretär Roland Freisler: „Der Gesetzgeber hat ihn (nämlich den Tätertypen) ganz einfach hingestellt. Damit der Richter ihn ansehen und sagen kann: Das Subjekt verdient den Strang„.

Damit entsteht der Eindruck, diese Äußerung beziehe sich auf die Neufassung des § 211 StGB im Jahr 1941. Tatsächlich bezieht sich diese Äußerung auf die „Verordnung gegen Volksschädlinge“, die am 05.09.1939 als Standrecht für den am 01.09.1939 begonnenen Krieg erlassen worden ist (Gedanken zur Verordnung gegen Volksschädlinge DJ 1939, 1450). Das zeigt sich allerdings nur, wenn man in die Fußnote blickt.

Aus der Äußerung kann unmittelbar ein Rückschluss auf die Verordnung gegen Volksschädlinge, nicht aber auf § 211 StGB gezogen werden.

Herr Dr. Deckers stellt eine allgemeine Annahme auf (in der Nazi-Zeit erlassene Strafnormen enthalten einen Tätertyp), führt als Beleg eine Äußerung zu einer Norm an, die in dieser Zeit erlassen wurde, stellt dann fest, eine andere Norm sei auch in der Nazi-Zeit erlassen worden, und folgert daraus, diese Norm enthalte notwendig diesen Tätertyp.

Dem würde es – abgesehen von der Logik – entgegen stehen, wenn der Inhalt der Änderung des § 211 StGB im Jahr 1941 Vorbilder aus der Zeit vor dem Jahr 1933 hätte.

Unter dem nachfolgenden Zwischentitel: „Rechtfertigungsversuche“ – demzufolge also wegen des moralischen Argumentes nun für die Beibehaltung der jetzigen Fassung des § 211 StGB Rechtfertigungsgründe dargelegt werden müssen – nimmt Herr Dr. Deckers zu dem Argument Stellung, die jetzige Fassung des § 211 StGB lehne sich an Entwürfe zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1896 an (leider gibt Herr Dr. Deckers keinen Hinweis, wer dieses Argument vertritt, so dass diese offenbar kritischen Beiträge nicht nachvollzogen werden können). Herr Dr. Deckers legt im Folgenden aber dar, warum daraus kein Rückschluss auf die Änderung des § 211 StGB im Jahr 1941 gezogen werden könne: „Es klingt so, als sei das Normenwerk deshalb für ein demokratisches Rechtssystem eher akzeptabel“.

Dabei verkennt Herr Dr. Deckers die Bedeutung des Hinweises auf den Schweizerischen Gesetzentwurf.

Der Hinweis auf den Entwurf für ein Schweizerisches Strafgesetzbuch soll nicht die gegenwärtige Fassung des § 211 StGB „rechtfertigen“, sondern die Diskussion über den Tatbestand des § 211 StGB von moralischen Begründungen frei halten, indem sie eine Ableitung der Kritik an dem Tatbestand aus seiner Entstehungszeit relativiert, deren Funktion es ist, jedes Wort gegen die Ziele von Herrn Dr. Deckers und Herrn VRiBGH Fischer als Rechtfertigung des Nationalsozialismus erscheinen zu lassen (vielleicht eher ein rhetorisches als ein moralisches Argument). Wenn nun Herr Dr. Deckers darzulegen versucht, warum aus dem Schweizerischen Gesetzbuch nichts gegen die von ihm gewünschte Änderung abzuleiten ist, so kann eben auch nichts für die von ihm gewünschte Änderung des § 211 StGB aus einer entsprechenden Fassung im Jahr 1941 abgeleitet werden. Es drängt sich eher die Frage auf, warum dieser Umstand so sehr betont wird, wenn es methodische Gründe für eine Änderung geben soll.

Moralische Begründungen im Bereich des Rechts zielen letztlich auf Macht, auf den Erwerb von Macht, auf den Erhalt von Macht. Der Bundesminister für Justiz Herr Heiko Maas hatte, vertreten durch seinen parlamentarischen Staatssekretär Christian Lange, in einer Rede vor dem deutschen Anwaltstag des DAV, am 26.06.2014 sein Programm dargelegt.

Das war zunächst die Sukzessivadoption für (sic) schwule und lesbische Paare:

Mit diesem Gesetz haben wir dafür gesorgt, dass Kinder das bekommen, was jedes Kind braucht und verdient: nämlich Eltern„.

Das ist gegenwärtig die Abschaffung der Gleichheit vor dem Gesetz:

Den Gleichheitssatz in Artikel 3 bringen wir gerade mit der Frauenquote noch mehr zur Geltung. Der Gleichheitssatz, das sind eben nicht nur gleiche rechtliche Startbedingungen für Männer und Frauen. (…) Dies wird Folgen haben. Mehr Frauen in Führungspositionen werden andere Frauen nachziehen. (…) Die Quote wird dafür sorgen, dass das enorme Potenzial hoch qualifizierter Frauen endlich genutzt wird, die best ausgebildete Frauengeneration aller Zeiten, und sie ist damit auch ein effektives Programm gegen den Fachkräftemangel„.

Und es ist schließlich die Änderung des Strafrechts:

Deswegen haben wir uns auch eine Überarbeitung der Tötungsdelikte vorgenommen. Die schwerste Sanktion, die unser Strafrecht kennt, stammt aus dem Jahr 1941. Der Mord-Paragraph ist noch immer geprägt von der Tätertypenlehre und dem Ungeist der Nazis. So benachteiligen die Mordmerkmale des Gesetzes vor allem weibliche Täter in den so genannten Haustyrannen-Fällen„.

Der Ungeist der Nazis (das Verhalten der deutschen Frauen und Männer in den Jahren 1933 bis 1945) bestünde demnach in der Benachteiligung der Frauen. Der Nationalsozialismus war eine Sache der Männer, deren Opfer die Frauen geworden sind. Ich formuliere diese Aussage des Bundesministers der Justiz aus: die Deutschen tragen keine Verantwortung für den Nationalsozialismus, beschränkt auf unterschiedslos alle Deutschen weiblichen Geschlechts. Eine partielle Amnestie also, die mich an die partielle Amnesie erinnert, die einige Menschen bei Ende des Zweiten Weltkriegs erfasst haben soll, ein räumlicher Erinnerungsverlust beschränkt auf die Umrisse der zerstörten Stadt, um dem Anblick auszuweichen, dem man nicht entgehen kann. Dieser Erinnerungsverlust hat mit dem Leipziger Platz in Berlin ein Denkmal erhalten, Leere gefasst von zeitloser Architektur. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang aber nicht, weiter darüber nachzudenken, wenn es nur um die Benutzung des Nationalsozialismus zur Erlangung persönlicher oder wirtschaftlicher Vorteile für sich oder andere geht, wie es in dem Gesetz Nr. 104 zur Befreiung vom Nationalsozialismus als das Nutznießen definiert war, und einen nachvollziehbaren Grund für das Verhalten der deutschen Frauen und Männer in den Jahren 1933 bis 1945 benennt.

Herr Dr. Deckers weist zur Begründung seines Urteils über „Rechtfertigungsversuche“ gegen die von Herrn Bundesminister der Justiz gewünschte Änderung des § 211 StGB auf einen Unterschied zwischen dem Schweizerischen Gesetzentwurf des Jahres 1896 und dem Tatbestand des § 211 StGB hin. Der Gesetzentwurf des Jahres 1896 enthielte keine sonstigen niedrigen Beweggründe. Genau diese sollen aber nicht entfallen, sondern lediglich nach den Vorstellungen des gegenwärtigen Gesetzgebers neu definiert werden (sei es auch in § 46 StGB). Das wäre dann keine Befreiung von dem Wesen des deutschen Nationalsozialismus, sondern sein neues Gewand.

Die Methode, widersprechende Argumente im Vorhinein als Rechtfertigungsversuche zu disqualifizieren, entspricht der Verwendung des Wortes homophob, wonach – abweichend von dem üblichen Ausgleich widerstrebender Interessen zwischen Privaten oder zwischen verschiedenen Meinungen in der Politik – jeder, der nicht vorbehaltlos das Interesse einer bestimmten Seite vollständig erfüllt, bewertend als homophob bezeichnet und damit als Mensch mit niedrigen Beweggründen aus der Diskussion ausgeschlossen wird. Was letztlich bedeutet, diesen Menschen und seine Interessen als niedrig zu bestimmen.

Und so beginnt die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) zur Frauenquote mit einer Ergebenheitsadresse, die ein wenig an das Kaiserreich erinnert: Die BRAK begrüßt das mit der Gesetzesänderung verfolgte Ziel, den Anteil an weiblichen Führungskräften auf Leistungsebene zu erhöhen. Stellungnahme

Wohingegen der DAV sich in seiner Stellungnahme – erklärtermaßen – von vornherein darauf beschränkt, dem Gesetzgeber Hinweise zu geben, wie er das Gesetz gegenüber Klagen gerichtsfest machen kann.

Manche empfinden es eben als befreiend, ohne die Frage nach dem Warum auszukommen, ohne Zweifel leben zu dürfen.

Ein Beispiel für die Wirkung der Rethorik in Bezug auf die angestrebte Änderung des § 211 StGB sehe ich in einem Artikel der Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Der Einleitungssatz lautet:

Die ‚braune Schleimspur‘, wie Bundesrichter Thomas Fischer es nennt, soll weg: Die Paragrafen zum Mord und zum Totschlag stammen aus dem Jahr 1941. Roland Freisler, der spätere Präsident des Volksgerichtshofes, hatte einen maßgeblichen Anteil an der Formulierung ‚Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft‘, heißt es dort. ‚Mörder ist, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder aus sonst niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam (..) einen Menschen tötet‘. Die Norm knüpft nicht an eine Handlung an, sondern an einen Menschentypus. Eine Neufassung von Mord und Totschlag ist ein Projekt, mit dem man Sympathien gewinnen kann.“

Wenn ich diese Ausführungen zu Ende denke, kann ich also einen Menschen aus Mordlust töten, bin aber nur Mörder, wenn das für mich typisch ist. Besser nicht, denken. Es finden sich aber hier gerafft die Informationsgesten, mit denen der Meinungsreflex in Bezug auf das pflichtgemäß durch Herrn Heiko Maas vermittelte Ziel erzeugt werden soll, wobei sich in dem Absatz selbst schon eine reflexhafte Informationsmittlung mischt. Um nicht im Einzelnen darauf eingehen zu müssen, darf ich die hier dargestellte Zusammenfassung der Argumentation kürzen auf: § 211 ist bäh. 

Ich sehe in diesem, aus dem Zusammenhang des Textes genommenen Teil des zitierten Artikels ein praktisches Bespiel, wie die Informationsvermittlung an eine allgemeine Öffentlichkeit in Fällen stattfindet, die Nachdenken erfordern würden. Die Informationsvermittlung beschränkt sich auf die Wiedergabe der zur Sympathiegewinnung für die angestrebten Ziele erzeugten Geschichte, weil eine Auseinandersetzung mit der Thematik in der Vermittlung praktisch nicht möglich ist, aber selbst wenn auch bedeuten würde, eine Position zu der Frage einzunehmen, die zwangsläufig nicht sympathisch ist.